Freitag, 12. April 2024

Weinanbau in der Provence

 Araber und Russen haben Öl, Franzosen haben Wein. Die Sorte, die in der Provence in vielen Barrel gefördert wird und weltweit viele Konsumenten antreibt, ist der Rosé. So weit, so gut.

Und jetzt die schlechte Nachricht: der Klimawandel, putain, schon wieder der.





In der guten, alten Zeit war es so: Die antiken Griechen haben Marseille & Co. vor ungefähr zweieinhalb Jahrtausenden gegründet und dabei Weinreben und Olivenbäume als Immigranten aus der alten Heimat mitgebracht. Weinbau war so ungefähr die beste antike Idee überhaupt und hat sogar noch besser funktioniert als die Demokratie. Rotwein, Weißwein, die Leute haben das immer gewählt, und seit einigen Jahrzehnten hat der provenzalische Rosé mit kräftigen Ellenbogen die anderen Farben beinahe aus dem Regal gedrückt und sich zum echten einheimischen Bölkstoff und zugleich globalem Exportschlager entwickelt.

Promis haben diesen, wie so viele Trends natürlich erst spät mitbekommen. Dafür haben sie das Geld, um ihren erkenntnistheoretischen Rückstand in cash aufzuholen. Beispiele? George Lucas hat in guten Zeiten im Midi Château Margüi für 9 Millionen Euro gekauft, das Traumpaar Brad Pitt und Angelina Jolie die Domaine de Miraval für 16 Millionen (ein Schnäppchen, zumindest war später noch genug Schotter für Scheidungsanwälte übrig), der irischer Milliardär Paddy McKillen Château La Coste für 10 Millionen, der französische Unternehmer Pierre Gattaz Château de Sannes für 11 Millionen. Teuer? Nö. In fetten Vor-Putins-Krieg-Zeiten war ein Hektar provenzalisches Weingut für schlappe 150 000 Euro zu haben. (Wer oenologisch noch etwas drauflegen möchte: Ein Hektar in Burgund kann bis zu 35 Millionen Euro kosten.)

So ein provenzalisches Weingut wie du und ich ist zum Beispiel, direkt bei uns um die Ecke, Château Virant, schön nahe am Étang de Berre: 180 Hektar Weinstöcke, in normalen Jahren sind die gut für wirklich jeden Durst löschende 120 000 Hektoliter. (Und 100 000 Liter Olivenöl wächst bei denen an den Bäumen, auch nicht ganz schlecht.) Zuerst wird der Muscat für den Weißwein gelesen, dann Sauvignon, Chardonnay, schließlich kommen alle anderen Arten ins Fass.

Nur, hey, alle, alle Jahreszeiten werden inzwischen immer heißer und trockener, da kannst du deine Hand zwischen Weinstöcken festkleben, das ändert jetzt leider auch nichts mehr. Früher war Weinlese vielleicht mal eine Angelegenheit für den Herbst – nun schneiden Arbeiter im August die Trauben ab. Rekordhalter ist eben jenes Château Virant, Lese 2003, Erntebeginn: 8. August. Wer sich als Erntehelfer bewerben möchte, dem muss ich den Enthusiasmus etwas dämpfen: Im Hochsommer ist es so heiß, dass die Lese nachts oder bestenfalls in den frühesten Morgenstunden erfolgen muss. Wenn du meinst, dass sechs Uhr morgens früh ist, such dir besser einen anderen Job.





Noch ein Knaller: Seit den alten Griechen musste man niemals, niemals den Wein gießen. Es gab wenig Regen in der Provence, doch der hat zweieinhalbtausend Jahre ausgereicht. Seit einigen Jahre, eh merde, nun nicht mehr. Winzer müssen wässern – bis zu einer Millionen Liter Wasser pro Hektar pro Saison. (Und, siehe oben, so ein eher normalgroßes Weingut wie Château Virant hat 180 Hektar…)

Was machen George Lucas und die anderen armen Winzer nun? Ein Nachbar von uns, der seit ewig und im Familienbetrieb ein richtig tolles kleines Gut bewirtschaftet, denkt ernsthaft darüber nach, alle seine Reben auszureißen und durch solche zu ersetzen, die mehr Trockenheit und Sonne aushalten. In fünf Jahren würden sie die erste Trauben tragen, in zehn Jahren wäre dieser Wein dann richtig gut. Hoffen wir, dass bis dahin der Süden Frankreichs nicht schon wieder zu heiß und trocken auch für diese Rebsorte geworden ist.

Und wo diese neue Rebsorte herkommt? Aus Griechenland, wie schon vor zweieinhalb Jahrtausenden.

Mittwoch, 6. März 2024

Cote Bleue im Sturm

Neulich hat das Mittelmeer mal Atlantik gespielt, und das war schon schön. Den Szenenwechsel hatten wir dem Südwind zu verdanken. Wind aus Süden, das bedeutet eine Ahnung von Afrika, schön warm, und manchmal trägt er sogar Saharasand zu uns, bis die Luft im gelbraunem Staub diesig schimmert. Meistens aber saugen sich die fröhlichen Böen über dem Meer mit Wasser voll und laden das dann an Land über unseren Köpfen wieder ab.





So war es auch vor ein paar Tagen – nur ausnahmsweise mit Windstärke acht oder neun, keine Ahnung wieviel, jedenfalls habe ich ordentlich was auf die Mütze bekommen. Wir sind mal wieder an der Côte Bleue gewandert, und da sagt unsere Tochter: „Das sieht aus wie England.“





Und tatsächlich fühlte es sich an wie Broadchurch mit Pinien. (One of my favorite tv series, especially seasons one and two.) Die Küste ist steil und felsig, fällt aus zwanzig, dreißig Metern nahezu lotrecht ins Wasser, dahinter das große Blau.

Well, diesmal das große Grau.

Der Himmel ist von Horizont zu Horizont fahlgrau, darin dunkelgraue, weiße, silbrige Wolkenstreifen und Wolkenfetzen. Das Mittelmeer hat die Farbe von Schiefer angenommen, geriffelt von zahllosen hellen Schaumkronen, in Landnähe leuchtet es türkis. Der Wind treibt die Wellen gegen die Küste, wo sie sich zu Brechern aufbäumen, bevor sie in haushohen Gischtwänden an den Felsen zerstieben. Du hörst ihr dumpf grollendes Branden, lange bevor du das Meer siehst. Ist mir hier noch nie zuvor passiert.





Am Horizont halten eine Fähre nach Algerien und ein Frachtschiff – wie es aussieht: reichlich unbeeindruckt – stur Kurs gen Süden. Der Leuchtturm von Planier blinkt tagsüber nicht (zumindest kann ich keine Leuchtzeichen ausmachen) und steht bloß als brauner Bleistiftstummel vor dem fernen Himmel. Feinste Tropfen wirbeln von den Brechern hoch zum Küstenweg, es duftet nach Meer, und auf den Lippen liegt der Geschmack von Salz. Möwen segeln auf gezackten, ruckartig die Höhe wechselnden Kursen durch die Böen. Du folgst mit den Augen ihrem Flug, und ganz plötzlich sind sie weg, als hätte sie der Sturm oder das Meer verschluckt.





Wir erreichen die Calanque des Anthénors, eine winzige Bucht, kaum mehr als eine Kerbe in der Steilküste. Am Meeressaum ein paar Handbreit Kieselstrand, die Steine über Äonen vom Wasser glattgeschliffen. Drumherum zernarbte sandfarbene und graue Felsen. Und ganz allein, hart diesseits der auslaufenden Wellen auf dem Boden sitzend, eine junge Frau, Muslima, Kopftuch, ihr Körper umhüllt von einem langen, modischen Wintermantel, den sie sich gegen die Böen eng um den Leib geschlungen hat. Aus dem Maghreb, denke ich, vielleicht hat sie das Mittelmeer, ihr Mittelmeer, noch nie so entfesselt gesehen. Sie bemerkt uns nicht, sie hört uns nicht (die Brecher…), sie blickt bloß unverwandt aufs Meer hinaus, hält ihr schönes Gesicht in diesen salzigen Wind.

Auf ihren Zügen spiegelt sich das pure Glück.




Donnerstag, 15. Februar 2024

Gruselgeschichten aus der Provence

 Das sei ja gruselig, sagt die beste Ehefrau von allen, nachdem ich ihr, meiner Erstleserin, eine Kurzgeschichte gegeben habe. Recht hat sie. Die Provence ist gruselig – zumindest manchmal.

Da joggst du morgens friedlich mit dem Köter durch den Wald, und plötzlich joggt ein kleiner Keiler fröhlich mit. Da fragt man sich beklommen: Putain, wo treibt sich wohl der Rest der Rotte rum? Und dann gruselt’s einen. (Der Hund ist in solchen Fällen eher keine Hilfe – der hält sich schön hinter mir versteckt, wenn’s hart auf hart kommt.)






Ein anderes Mal quillt aus der winzigen Touloubre Nebel auf, als sei sie die große Themse zu Zeiten von Sherlock Holmes selig. Gruselig. Gruselig auch, wie der verdammte selbe Nebel nachts um die Häuser streicht und ein provenzalisches Mas in ein Schloss à la Edgar Wallace verwandelt. (Sherlock Holmes, Edgar Wallace, die Älteren unter uns erkennen die Verneigung vor den Altmeistern, für alle anderen gilt: Frag mal ChatGPT.)









In einem schönen kleinen Städtchen steht eine schöne kleine und schwangere Jungfrau Maria in einer Wandnische neben der schönen kleinen Kirche herum. Wenn man genau hinsieht – d’accord, wenn man sich etwas verrenkt -, dann wird die schwangere Lady Mother allerdings von bronzenen Füßen, nun ja, zertrampelt. (Schön ist das Ensemble aber doch, ne?)





An einem Abend schlendern die beste Ehefrau und ich durch Aix-en-Provence. Gleich geht’s in ein winziges Theater nahe am Cours Mirabeau. (Le Flibustier, 7 Rue des Bretons – falls Sie mal in Aix sind und an einem Abend mal gerade nichts zu tun haben. Es gibt geschätzt allerdings kaum dreißig Plätze, eine Reservierung wäre nicht schlecht. Weitere Infos hier: https://www.leflibustier.net/) Na, also, Theater: Wir schlendern durch Aix, sehen uns verträumt alte Häuser an – und wer sieht verträumt zurück? Ein Totenkopf. Ich meine, hey, wer meißelt sich freiwillig einen Totenschädel über die Eingangstür. Gruselig, oder?





Und dann gibt’s da noch die Müllcontainer am Rand einer Route Départementale. Darüber steht ein großes Schild, dass man doch bitte ja, ja, ja keinen Müll vor die Container abstellen soll. Und was steht davor? Ein altes Klo. Putain. Die gruseligsten Geschichten schreibt nicht die Natur, die denkt sich immer noch der Mensch aus.




Dienstag, 12. Dezember 2023

Chapelle Saint-Sixt bei Eygalières

 Der Coverboy der Provence heißt Sixtus. Mit dem Satz wollte ich ja schon immer mal beginnen. Eigentlich ist die Sache selbstverständlicher zu kompliziert, um sie in bloß sechs Wörter zu fassen. Alors: Eine Kapelle, die dem Heiligen Sixtus geweiht ist – die Chapelle Saint-Sixte – hat sich über Jahrzehnte zäh als das Motiv emporgearbeitet, das für die Provence steht. Als symbolischer Aufmacher von Artikeln, Cover von Zeitschriften, Foto von Websites, Umschlagbild von Reiseführern. (Für die Jüngeren: Reiseführer sind Tripadvisor auf Recyclingmaterial.) Immer mal wieder schafft es das kleine Gotteshaus ins Herz der Layouter und Bildredakteurinnen und damit vor die Augen von Leserinnen, Usern, wem auch immer. So wie jetzt:








Die Kapelle ist ja auch hübsch.

Saint-Sixte steht seit beinahe tausend Jahren etwa einen Kilometer östlich von Eygalières. Das ist, wenn man großzügig geographisch schätzt, ungefähr auf halber Strecke zwischen Saint-Rémy und Cavaillon. Eine romanische Kapelle, die im 12. Jahrhundert auf einem grauweißen Kalksteinhügel errichtet wurde, wo zuvor bereits ein antiker Tempel gestanden hatte. Aus den Steinwänden wachsen massige Stützwände wie Rippen, das Gotteshaus ist wirklich das: nicht größer als ein Haus. Die Kapelle ist auch zu bescheiden für einen richtigen Turm, stattdessen erhebt sich über den Dachfirst ein simples Glockengestell. Im Netz zeigen die meisten Fotos der Kapelle das Glockengestell noch so kahl wie mein Haupt. Doch in echt hängt längst wieder eine Glocke drin und ein schmiedeeisernes Kreuz steht noch obendrauf.






An eine Seite schmiegt sich ein ummauertes Mini-Kloster an das Gotteshaus, die Mönche, die hier einst wirkten, brauchten wirklich wenig Platz. Weil von Generation zu Generation mehr Pilger hierher kamen, wurde eine Vorhalle an den Eingang unterhalb des Glockengestells angebaut. Sie ist ein halbes Jahrtausend jünger, sieht aber genauso alt aus wie die Kapelle.

Gerade in ihrer Askese ist das Monument schön: Die Mauern sind frisch verputzt und schimmern grau, das Gewölbe der Vorhalle ist in einem kräftigen Ockergelb gehalten, ein starker Kontrast zum dunklen Grün der Zypressen, die als Wächter neben dem Gotteshäuschen stehen, und zum überirdischen Blau des Himmels. Diese Komplementärfarben hätten Vincent van Gogh gefallen, orange und blau, der niederländische Meister hat gerne mit derartigen Kontrasten gespielt. Es führt nicht einmal ein richtiger Weg den Hügel hinauf, muss es auch nicht. Der Felsboden ist so karg, dass Buschwerk nur hier und dort grüne Inseln formt, der Rest ist nackter und mithin leicht zu begehender Boden.

In einer Art Kranz rund um den Hügel haben sich Olivenbäume und Micocouliers aus Spalten gezwängt. Fast alle Stämme und Äste sind schwarz verbrannt von einem Feuer, das mindestens im Vorjahr, wenn nicht vor noch längerer Zeit gewütet haben muss. Doch die Bäume, die hier wachsen, sind zäh: An den äußersten Spitzen ihrer vernarbten Äste sprießt frisches grünes Laub.





Die schmucklosen Mauern und der karge Fels, die blassen Farben des Gotteshauses und die intensiven Farben der Natur, die Olivenhaine am Fuß der Anhöhe und der Blick auf die blau schimmernden Steinwogen der Alpilles, vom Vordach umrahmt – das ist die Provence. Die Natur ist karg und abweisend, aber der Mensch ringt ihr trotzdem Früchte und sogar den Glauben ab. Andererseits tut er das nicht in triumphierender Großspurigkeit, sondern bescheiden, still, weitab von aller Geschäftigkeit. Sant-Sixt gehört genauso in die Landschaft wie ein Stein oder ein Baum.

Ach ja, Sixtus, der Namenspatron und Coverboy: Sixtus II. war einer der ersten Päpste, er wurde am 6. August 258 in Rom aus einem Gottesdienst heraus verhaftet und noch am selben Tag enthauptet. Er ist der Schutzpatron, der bei Halsschmerzen hilft. (Logisch, selbiger wurde ihm ja durchtrennt, der Heilige weiß, wie sich das anfühlt.) Er steht schwangeren Frauen bei. (Don't ask me why.) Er behütet die Bohnenernte. (Dont ask me … genau.) Und, in der Provence extrem wichtig und vermutlich deshalb zog die Kapelle einst so viele Pilger an: Der Heilige Sixtus sorgt für ein gutes Gedeihen der Weintrauben.

Diese Kapelle ist also einen Besuch wert, nicht nur zu Weihnachten...

Donnerstag, 16. November 2023

Skorpione, Geckos und andere Hausbewohner

Vor, jetzt müssen wir alle mal ganz tapfer sein, tatsächlich schon beinahe zehn Jahren ist der erste Krimi um Capitaine Roger Blanc erschienen. Dort gibt es eine Einstiegsszene, die ich heute nicht mehr schreiben würde. Das hat nichts mit woken Sensitivity Readern zu tun (deren Tun ich mit großer Begeisterung verachte), sondern mit … Insekten. Genauer: einem Insekt.

Einem schwarzen Skorpion.





Der Einstieg geht nämlich folgendermaßen: Blanc wird gegen seinen Willen in die Provence versetzt, in seinem Frust kickt er einen Stein fort – und scheucht damit einen Skorpion auf. (mehr dazu hier: https://provencebriefe.blogspot.com/2014/05/esmag-vielleicht-etwas-seltsam.html) Tatsächlich war es früher hier genau so. Du hast irgendwo irgendeinen beliebigen Stein angehoben, und schon hob Euscorpius flavicaudis seinen vorwitzigen Stachel und zwei vorwitzige Scheren. Sie waren auch gerne im Haus unterwegs, alte Steinwände und undichte Fenster, hey! Das war nicht lebensgefährlich, sondern alltäglich. Mich hat einmal so ein zwei Zentimeter kurzer Genosse in den Finger gestochen, das fühlte sich an wie eine Kombination aus Wespenstich und Stromschlag. Ein echter Wachmacher, aber nach ein paar Minuten hast du die Sache schon wieder verdaut. (D'accord, wer allergisch reagiert, findet sich vermutlich in der Notaufnahme wieder, aber das gilt leider ja auch für die Wirkung mitteleuropäischer Feld-, Wald- und Wieseninsekten.)

Doch dieses Jahr habe ich noch keinen einzigen Skorpion gesehen. Letztes Jahr auch nicht. Und vorletztes Jahr, glaube ich, auch nicht. Das Foto oben habe ich vor sechs Jahren gemacht...

Wo sind die Biester bloß alle hin? Skorpione, meinte ich irgendwo mal gelesen zu haben, sind neben Ratten die Tiere gewesen, die auf den Pazifikinseln überlebt haben, auf denen testweise Atombomben gezündet worden waren. Zähe Kerle jedenfalls, gedeihen in Wüsten, Regenwäldern, Höhlen und halten es in manchen Weltgegenden auch noch in fünftausend Metern Höhe aus. Wir versprühen im und um das Haus kein Gift, die Bepflanzung hat sich nicht großartig verändert, von irgendwelchen neuen Raubtieren habe ich auch nichts gehört. Aber die Skorpione sind fort.

Wenn man erst einmal darüber nachdenkt, fallen einem dann gleich ein paar andere Tiere ein, die von der mediterranen Bühne auf- oder abtreten. Früher flitzten viele Eidechsen über Wände und Mauern und nur sehr wenige Geckos. Heute sind es ausschließlich (und viele) Geckos. Nicht, dass ich etwas gegen Geckos hätte, im Gegenteil. Die flinken Minisaurier (Die Freundin unseres Sohnes taufte einen „Fridolin“) sind großartig, vor allem im Haus. Ein Gecko im Zimmer, und du hast Ruhe vor Fliegen und Mücken. Ein Gecko in der Küchenspüle, und du musst ganz schön flink sein, um ihn aus dieser Falle wieder zu befreien. Aber was ist aus den ebenfalls insektenvertilgenden und ebenfalls schnellen Eidechsen geworden? (Das ist mir aufgefallen, als ich beim Joggen im Wald eine Eidechse aufgescheucht habe. Da wurde mir klar, dass ich dieses Jahr zuvor bislang noch gar keine … genau.)





Oder das: Meine Liebste und ich sitzen im Spätsommer auf der Terrasse und trinken Espresso. Da bewegt sich etwas auf der Stuhllehne gegenüber – auf den Eisenbögen stolziert eine wirklich stolze, wirklich große Gottesanbeterin herum. Die habe ich als Kind anno Dunnemals mal in irgendwelchen Tierfilmen gesehen. Doch live in der Provence? Vermutlich leben die hier seit Jahrmillionen, aber zumindest in den letzten Jahrzehnten haben sie sich gut vor mir versteckt.

Jetzt jedoch kommen Gottesanbeterinnen zum Kaffeeklatsch.





D'accord, nun reden wir alle wieder über den Klimawandel. Und die Provence wird ja auch immer heißer (siehe hier: https://provencebriefe.blogspot.com/2021/02/mimose-bluht-der-fruhling-kommt-zu-fruh.html). Aber, verdammt, Skorpione lieben doch gerade Hitze und Trockenheit! Und Eidechsen sind sicher keine Polarbären! Und Gottesanbeterinnen verspeisen Insekten, nicht wahr? Aber gibt es von Beutetieren plötzlich so viel mehr, dass sie jetzt überall jagen? Oder so viel weniger, dass sie sich aus früheren Verstecken hinaus und bis auf unsere Stuhllehne wagen müssen?

Vielleicht bin ich ja zu blöd das zu googeln, doch ich finde keine wissenschaftliche These, etwa zum Verschwinden der Skorpione. Liegt es also an mir? Bilde ich mir das alles bloß ein, weil die Skorpione irgendwo eine Rave-Party feiern und ich habe das als einziger nicht mitgekriegt? Für jeden sachdienlichen Hinweis wäre ich dankbar. Bis dahin kicke ich hin und wieder Steine weg und hoffe, endlich einen alten Bekannten zu treffen.

Montag, 9. Oktober 2023

Marseille, Vieux Port - et la Traversée vers Mascate

Marseille, Seefahrt, Hafenromantik! Eh bien... Sehen sich Landratten wie du und ich mal die Statistiken an – wieviele Tonnen Fracht werden pro Jahr umgeschlagen, wieviele Container aus- und eingeladen, wieviele Passagiere kommen und gehen von Bord, solche Sachen – tja, dann, surprise, ist unser guter alter provenzalischer Port tatsächlich immer noch eine große Nummer im Mittelmeer. Aber wen interessieren schon Statistiken? Genau.





Historiker verkünden: Griechische Seefahrer aus Phokaia haben, wohl so um 600 vor Christus, Massalia gegründet. Damit war in Marseille schon der Seebär los, als sie in Hamburg oder Rotterdam noch auf den Bäumen saßen. Der Vieux Port, der „Alte Hafen“, ist tatsächlich ein sehr alter Hafen, denn seine Kais erstrecken sich noch ungefähr da, wo schon die alten Griechen Molen erbaut hatten. Aber wen interessiert schon Geschichte? Genau.





Landratten sehen, wenn sie um den Vieux Port herum flanieren (da brachst du keine Viertelstunde, so riesig ist der nicht) hauptsächlich Masten und Außenbordmotoren, dazwischen ein paar unverdrossene Angler: der Vieux Port ist ein Yachthafen wie du und ich, richtig cozy, man darf auch gerne träumen, mal selbst am Steuer der einen oder anderen Yacht zu stehen, aber, hey, ein richtiger Hafen ist das nicht. (Immerhin haben Archäologen und Freiwillige vor einigen Jahren die Gyptis nachgebaut, nach dem Wrack eines antiken griechischen Fischerbootes, das im Erdreich von Marseille geborgen worden ist. Damit segeln Enthusiasten wieder herum, sehr schön und sehr Old School und der Heimathafen ist der Vieux Port.) Wo, zum Klabautermann, sind dann aber die ganzen Schiffe, ich meine: die richtigen Schiffe?





Alors: Das, was heute in nautischen Kreisen „Marseille“ heißt, findet im echten Leben eigentlich fünfzig Kilometer weiter westlich statt. In Fos-sur-Mer legen geradezu gigantische Containerschiffe und Tanker an, da wird die Tonnage gemacht. Nur: Zusehen darf man dabei nicht, das ist praktisch alles abgesperrt. Nix leichte Mädchen, schwere Matrosen, das ist alles Pipeline und Lastwagenstau auf der einzigen Zubringerstraße.





Wer es doch Hardcore haben möchte, dem empfehle ich Port-de-Bouc nebenan. Dort ist ein zweiter, kleinerer Tankerhafen angelegt worden, direkt gegenüber vom Yachthafen. Wer dort mit dem eigenen oder gecharterten Bötchen herumfährt, sieht Tanker, die langsam leergepumpt werden, bewundert das Ballett der Schlepper, atmet den lieblichen Duft diverser Erdölderivate ein.

Doch in Marseille? D'accord, hier landen größenwahnsinnige Kreuzfahrtschiffe an. Wer auf diese schwimmenden Hotels steht, kann an praktisch jedem beliebigen Tag auf jede beliebige Anhöhe der Stadt steigen und diese Neo-Titanics der Meere sehen. Der Hobbysegler in mir wundert sich stets aufs Neue, dass diese Kästen, die inzwischen wolkenkratzerhoch sind (und das ist keine Übertreibung), nicht einfach bei der ersten seitlichen Böe kentern, ja, dass diese Brocken überhaupt schwimmen. Da müssen Gesetze der Quantenphysik wirken, nicht der Physik wie du und ich.





Bref, Seefahrerromantik mit Reisenden wie aus der Dritten Klasse, Auswanderern, qualmenden Schornsteinen, rosttätowierten Rümpfen, übellaunigen Matrosen, überforderten Stewards, misstrauischen Zöllnern, wagemutig gestapelter Fracht - gibt’s das nicht mehr, nicht einmal in Marseille? Mais oui. Dafür geht man einfach in ein, genau, Einkaufszentrum.





Terrasses du Port heißt es, ist ziemlich neu und ziemlich luxuriös (luxuriös genug für einen Apple-Store) und liegt hinreißend direkt am Mittelmeer. Das heißt, eben nicht ganz direkt. Zwischen Konsum und Küstensaum erstreckt sich der Kai, an dem die Fähren für Korsika und den Maghreb anlegen. Und DIE sind cool. Hier ist Seefahrt noch nicht Kreuzfahrt, sondern nüchterner Personentransport, hier ist der Passagier nicht verwöhnter Gast, hier darf er noch Fracht sein. Wenn man ahnen will, wie es in den vielleicht denn doch nicht ganz so goldenen Zeiten der Dampfschifffahrt einst überall in Europas, Amerikas und eigentlich allen Häfen zuging: Wenn du die zwei Ströme der Ankömmlinge und der Abfahrenden sehen möchtest, der Jungen und Alten, der Hoffnungsvollen und Gescheiterten, derjenigen, die voller Energie ankommen und voller Glück abreisen (oder eben nicht), der Frauen, Männer, Kinder, dann stell dich auf den Quai de la Joliette vor oder das Dach auf den Terrasses du Port und staune. Ein-, Aus- und Rückwanderer, schwere und leichte Fracht und dahinter die offene See – das gibt’s direkt hinter dem Apple-Store, das ist mein Lieblingshafen in Marseille.

Ah, Vieux Port: Heute genießen den täglich viele Touristen, und er ist ja auch wirklich schön. Die Restaurants an seinen drei Ufern sind allerdings, nun ja, formulieren wir es so: Eben vor allem auf Touristen eingestellt. Wenn man hier speisen möchte, dann empfehle ich die Wanderung bis ganz ans Ende: Au Bout du Quai, Ecke Quai du Port, Avenue de Saint-Jean. Sehr nett, gutes Essen, und da der Laden von Frauen geführt wird, haben wir neben all den Seemännern ganz am Ende des Kais auch noch ein paar Seefrauen gewürdigt.






P.S.: Chère amies, cher amis, à partir du 11 octobre nous pouvons embarquer pour un voyage (historique) entre Marseille et Mascate. Bienvenue à bord du Champollion...

https://www.editions-jclattes.fr/livre/la-traversee-vers-mascate-9782702451212/

Und hier ist der Link zum Provencebrief rund ums Original:


https://provencebriefe.blogspot.com/2022/08/die-passage-nach-maskat.html

Freitag, 15. September 2023

Tour d'Horloge in Salon-de-Provence

Die Tour d'Horloge in Salon-de-Provence ist ganz sicher nicht das berühmteste Monument im Midi, doch ich finde diesen Uhrenturm richtig sympathisch. Das liegt gar nicht mal so sehr daran, was gebaut worden ist, also an seinem Äußeren, sondern eher, wie er gebaut worden ist, also an seiner Geschichte. (Klar, ich habe, erstens, in fernen vergangenen Zeiten noch fernere vergangene Zeiten studiert und bin, zweitens, auch schon mal mediterraner Bauherr gewesen, da freut man sich immer, wenn man was lernen kann.)





Also: Kurz vor dem Jahr 1600 beschließt der Rat der Stadt Salon, dass man eines der überflüssig gewordenen mittelalterlichen Festungstore durch einen Uhrenturm ersetzen soll, damit fürdahin alle Bürger wissen, wie spät es ist. Das ist auch eine Form vom Abschied aus dem Mittelalter und der Ankunft in der Moderne: Jeder muss jetzt pünktlich sein. Das ist ein öffentliches Bauvorhaben und, die Berliner unter uns kennen das, bei öffentlichen Bauvorhaben geht es Schlag auf Schlag: Schon gut ein Vierteljahrhundert nach dem Beschluss wird bereits der Grundstein gelegt. Der Baumeister Joseph Portau und die Maurer Sautel, Père et Fils, machen sich 1626 an die Arbeit, zwischendurch verklagt der eine den anderen oder den Stadtrat, aber 1630 ist der Turm fertig.

Oder, halt, doch nicht...

Die öffentlichen Bauherren, die Berliner unter uns kennen das, haben second thoughts. Zwei Etagen sind nicht genug für einen Turm, wer hätte das gedacht, es müssen, genau, drei Etagen sein! Leider, die Lauterbachs unter uns kennen das, kommt dann ein Virus dazwischen. Die Pest geht um, und von den damals gut dreitausend Bürgern Salons ist plötzlich die Hälfte tot. (Es lohnt sich, über solche Seuchen nachzudenken, bevor man mal wieder über Corona und Coronamaßnahmen weint.) Jedenfalls dauert es noch bis 1664, dann aber haben Salons Überlebende die dritte Etage endlich errichtet.





Ein Uhrmacher aus Lançon setzt ein Uhrwerk ein, das nicht allein die Zeit, sondern auch die Mondphasen anzeigt. Drei Glocken, insgesamt schlappe zweieinhalb Tonnen Bronze, werden mit der Mechanik gekoppelt und melden auch akustisch, wem welche Stunde geschlagen hat. Was ich übrigens genial finde: Man hat gerade diese Stelle der alten Stadtmauer als Platz des Uhrenturms gewählt, weil sie in der Hauptwindrichtung steht. So weht das Glockengeläut besonders oft und besonders laut über die Dächer, auf dass niemand mehr sagen kann, er wüsste nicht, wie spät es ist, Zeitdruck made im 17. Jahrhundert.

Nun, der Turm wirkt wie ein mittelalterlicher Donjon, nein, halt, wie ein Renaissancebauwerk, nein, halt, wie ein italienischer Campanile, nein, halt, manche Flaneure erinnert er sogar an eine chinesische Pagode, aber, hey, er tut seine Pflicht. Das Uhrwerk erwies sich als so solide, dass man bislang ungefähr einmal pro Jahrhundert neue Zahnräder und was man sonst so braucht einbauen muss, es läuft zuverlässiger als ein Renault und ist wartungsfreundlicher als ein iPhone. Als 1909 die Erde in der Provence bebte, blieb der Turm unerschütterlich stehen, das Uhrwerk allerdings auch: Es zeigte zehn nach neun Uhr abends an, den exakten Zeitpunkt des seismischen Ereignisses. Dann wurde die Mechanik wieder repariert und, tja, die Uhr läuft und läuft.





Was mich aber - d'accord, nicht als Historiker, wohl aber als Bauherren - vor Bewunderung wirklich auf die Knie sinken lässt, sind die Gesamtkosten für alles: für über sechs Jahrzehnte gestreckte Maurerarbeiten, drei Bronzeglocken, eine eisernen Spitze und eine hochkomplexe mechanische Uhr waren 11.161 Livres fällig.

Das entspricht nach heutigem Umrechnungskurs ungefähr 335.000 Euro.

Eh bien, unsere modernen Bauten schaffen wir nur noch mit ein paar Nullen bei den Kosten mehr, aber dafür halten sie dann auch ein paar Nullen bei den Jahren weniger lang.